Einigkeit und Recht und Freiheit oder Noch ist Polen nicht verloren
Von Stephan Rauhut
Das politische Europa – die Europäische Union steckt in einer Krise. Das ist an sich nichts Neues. Hieß es doch bereits in vergangenen Krisen, dass Europa – also die Europäische Union – stets gestärkt aus solchen Krisen hervorgegangen sei. Jede Krise, die meistens mit einem über Nacht andauernden EU-Gipfel beigelegt wurde, führte zu neuen Abmachungen, Abkommen und Einigungen, an die man sich anschließend nicht hielt. Vielleicht auch, weil mancher Regierungschef, nachdem er sich von so einem Gipfel erholt hatte, merken musste, dass er sich zu Hause auch seinen Wählern zu stellen hatte, und die Erklärungen immer schwerer fallen, warum eigene Angelegenheiten, die bislang in die Kompetenz seines nationalen Parlamentes fielen, künftig „europäisiert“ werden sollten.
So wurde die ungarische Regierung von EU-Politikern angegriffen, weil sie gemäß europäischen Rechts („Schengen“) die EU-Außengrenze durch einen Zaun sicherte. Der neuen polnischen Regierung wird von deutschen EU-Politikern mit einem Ermittlungsverfahren gedroht, weil sie durch Mehrheit im Parlament, die sie durch Wahlen erlangt hat, Gesetze im eigenen Land ändert. Verdrehte Welt?
Die Mehrheit der Mitglieder der Europäischen Union will eine Begrenzung der Zuwanderung und der ankommenden Flüchtlinge durch gesicherte Grenzen. Deutschlands Regierung isoliert sich zunehmend in Europa durch ihre „Willkommenspolitik“, in deren Verbindung die bundesdeutsche Forderung nach „europäischer Solidarität“ steht, was nichts anderes heißt, als das anderen EU-Mitgliedern Flüchtlinge und Zuwanderer aufgedrängt werden sollen. Weder wollen die sogenannten Flüchtlinge in diese Länder noch wollen diese Länder diese Zuwanderung. Kann man es Polen, der Slowakei oder Ungarn wirklich verdenken? Die dort verantwortlichen Politiker sehen doch, dass wir in Deutschland — oder noch schlimmer in Großbritannien oder Frankreich — die Integration der Zuwanderung in der Vergangenheit schon nicht geschafft haben. Duisburg-Marxloh, Berlin-Neukölln oder gar die brennenden Vorstädte von Paris, Marseille oder in England sind nun nicht gerade Zeichen von gelungener Integration. Es sind auch keine guten Beispiele für die viel beschworenen europäischen Werte, sondern eher ein Zeichen für deren Abgesang. Warum sollte der Parole „Wir schaffen das“ geglaubt werden, wenn es bislang mit viel geringerer Zuwanderung und jungen Leuten, die bereits in der dritten Generation hier sind, nicht zu schaffen war?
So ganz isoliert scheint die Bundeskanzlerin noch nicht. EU-Kommissionspräsident Juncker steht noch hinter der Bundeskanzlerin, was er auch sofort dadurch zeigt, dass er Österreich heftig kritisiert, das seine Zuwanderungszahlen begrenzen will und die Grenzen kontrolliert und sichert.
Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit: das Problem mit den Rechtsbrüchen und Risiken im Zusammenhang mit der Gemeinschaftswährung Euro ist noch nicht gelöst. Damit komme ich wieder zu Polen. Die Wahl der neuen Regierung in Warschau mit absoluter Mehrheit kam nicht überraschend. Spätestens im Frühjahr des vergangenen Jahres, als Andrzej Duda deutlich gegen den liberalen Amtsinhaber Komorowski die Wahl gewann, war klar, dass auch die Parlamentswahl im Herbst für die bis dahin regierenden Liberalen (PO) in einer Niederlage enden würde. Deshalb verabschiedete die alte Regierung unter der Führung der PO noch schnell einige Gesetze und ernannte neue Verfassungsrichter. Immerhin waren 14 der 15 Verfassungsrichter von der Vorgängerregierung benannt worden. Die Kritik an der Neufassung des Rundfunkgesetzes muss besonders dann als seltsam erscheinen, wenn sie von deutscher Seite kommt. Hängt doch die Besetzung der Rundfunkräte in der Bundesrepublik Deutschland sehr stark von der parteipolitischen Bindung ab.
Nirgends fand ich in den politischen Kommentaren eine befriedigende Analyse für diesen erdrutschartigen Umschwung der Mehrheiten in Polen. Selbst in den Stammlanden der Liberalen, Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen usw. siegte diesmal die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PIS). Was hat die Mehrheit der Menschen in Polen zur Sehnsucht nach einem Wechsel nach zwei Wahlperioden getrieben? Donald Tusk, der 2007 Regierungschef wurde, kündigte im selben Jahr an, sein Land schnell in den Euro führen zu wollen. Dafür müssen ein Land und eine Volkswirtschaft Voraussetzungen erfüllen – zumindest war das im Vertrag von Maastricht dereinst verabredet worden. Und 2007 war noch nicht für jeden sichtbar, dass sich kaum noch einer an diesen Vertrag hielt. Es schien auch nicht so dramatisch, weil sich im Alltag ja nichts änderte.
Mit etlichen — manchen sinnvollen, vielen drastischen — Reformen wollte Tusk das polnische Staatswesen für die Gemeinschaftswährung fit machen. Die für die Menschen offenbar sichtbarste Änderung war die Rentenreform. Überall in Polen gingen tausende Menschen auf die Straßen und demonstrierten gegen die befürchtete Enteignung durch die Regierung. Der einst so beliebte Kaschube Donald Tusk kam seiner Abwahl zuvor und wurde zum Präsidenten des Europäischen Rates gekürt.
Obwohl Polen den Euro noch nicht eingeführt hat, ist vermutlich der Hauptgrund für den Sieg der PIS in der falsch angelegten Gemeinschaftswährung zu suchen – insbesondere in den Regelverstößen der Euromitglieder seit der Euroeinführung. Das Gefühl der Menschen in Polen, ihre noch junge Freiheit und wieder gewonnene Identität an ein neues zentralistisches Gebilde abgeben zu müssen, hatte sicher einen großen Einfluss auf ihre Wahlentscheidung. Dass Polen selbst ein zentralistisch organisierter Staat ist, wird dabei etwas verdeckt, obwohl einige Regionen, wie die drei Wojewodschaften in Schlesien, ein starkes regionales Selbstbewusstsein gegenüber Warschau entwickelt haben.
Neuerdings wird Polen neben anderen Staaten fehlende „europäische Solidarität“ von Europapolitkern vorgeworfen, weil sie sich weigern, die massenhaft nach Deutschland und Österreich strömenden Zuwanderer und Flüchtlinge aufzunehmen.
Die Einigkeit in Europa scheint dahin. Nicht, weil es Staaten an Solidarität mangelt, sondern weil die Regeln, die sich die europäischen Staaten in der Europäischen Union gegeben haben, keinen Wert mehr haben. Wenn Regeln nichts mehr gelten, ist auch das Recht dahin. Ohne Recht und ohne Identität geht auch Freiheit verloren. Die Folge der Rechtsbrüche ist, dass sich Staatengruppen innerhalb der Europäischen Union zusammentun, die gemeinsame Interessen verfolgen, so wie das die Visegrad-Staaten formuliert haben oder erst jüngst die Konferenz der Balkanländer mit Österreich. Ein einiges Europa verschiedener Blöcke. Diejenigen, die zu derartigen Treffen nicht eingeladen werden, reagieren beleidigt, weil Entscheidungen getroffen werden können, die zu ihren Lasten ausfallen könnten. Ist dies das einst beschworene Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten?
Mir ist nicht wohl dabei, wie Politiker der EU und aus Deutschland abfällig über unsere polnischen, slowakischen oder ungarischen Nachbarn sprechen. Seit 25 Jahren arbeiten insbesondere die deutschen Heimatvertriebenen an einer Verständigung – und genaugenommen sind wir die Einzigen, die mit einer derartigen Intensität grenzüberschreitende, europäische Kontaktpflege betreiben. Noch nicht alle Wunden des 20. Jahrhunderts sind geheilt. Wir sollten sie nicht wieder aufreißen.
1832 trafen sich auf Schloß Hambach etwa 30.000 junge Menschen unter anderem mit den Farben „schwarz-rot-gold“ und „weiß-rot“, um für Demokratie und Freiheit zu demonstrieren. Phillip Jacob Siebenpfeiffer, ein national gesinnter demokratischer Publizist, hielt eine fesselnde Rede für die Freiheit und die Einheit der Nation. Er endete mit den Worten: „Es lebe das freie, das einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten! Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!“
Vielleicht kann der Geist von Hambach uns zu unserem Europa zurückführen.
ps Pressedienst Schlesien Nr. 01/2016
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